Dimensionen des Wertwandels

nach einem Artikel von

Hasso von Recum: Dimensionen des Wertwandels

in: Beilage der Zeitung Das Parlament vom 23.6.1984

I. Akzeptanzkrise der technisch-industriellen Zivilisation

Seit den siebziger Jahren entfaltete sich in industriellen Zivilisationen zwischen traditionellen industriegesellschaftlichen und postmaterialistischen, nichtindustriellen Orientierungen ein tiefgreifender Konflikt. Dieser Wertekonflikt ist Ausdruck einer Akzeptanzkrise des Gesamtsystems der technisch-industriellen Zivilisation. Diese Krise findet in mehreren Erscheinungen ihren Ausdruck: Am auffälligsten in den »antimodernistischen Protesten«, die durch die entstandenen »neuen sozialen Bewegungen« repräsentiert werden. In die Gruppe dieser Bewegungen fallen Ökologie-, Alternativ-, Frauen- & Friedens-bewegungen. Sie zeichnen sich durch aggressiv vertretene Abgrenzungsbemühungen aus und vertreten wachstums-, technik- & herrschaftskritische Gegenpositionen zur Mehrheitskultur. Eine andere Ausdrucksform ist eine allgemein gesteigerte Sensibilität gegenüber möglichen schädlichen Folgen der technisch-ökonomischen Entwicklung. Auch wachsende Zweifel an der Problembewältigungsfähigkeit des politischen Systems, zunehmende Autoritäts-feindlichkeit, Infragestellung der Legitimität traditioneller Institutionen und nachlassende Verbindlichkeit der klassischen Arbeits- & Leistungstugenden. Viele Berufstätige sind schon seit geraumer Zeit nicht mehr dazu bereit, Mobilitäts- & Risikobereitschaft, Berufs- & Karrierelust aufzubringen, es herrscht aber trotzdem ein ausgeprägtes berufliches Sicherheitsdenken. Die ihres ethischen Unterbaus entkleidete Arbeitsmoral zieht sich auf eine nur noch rational und rechtlich begründete Vertragsmoral zurück. Der Lebensschwerpunkt liegt nicht mehr in der Berufssphäre, sondern in der Privatsphäre, wo individuelle hedonistische Ziele erreicht werden sollen. Moralisches und emotionales Engagement wird nun im privaten Bereich für neue gesellschaftliche und politische Ziele aufgebracht, während die traditionellen ethischen Imperative an Bedeutung verlieren. Dieser Wertewandel hin zu postmaterialistischen Wertvorstellungen ist keine »Eintagsfliege« und betrifft auch nicht nur jüngere Altersgruppen. So lässt sich dieser industriegesellschaftlich-postmaterialistische Wertekonflikt nicht als herkömmlicher Generationenkonflikt beschreiben. Es ist nicht eine heranwachsende Generation, die den Wandel vorantreibt, sondern besser Gebildete und Angehörige der im sozialen Dienstleistungsbereich tätigen neuen Mittelschichten. Dies bedeutet jedoch keine sozialschichtenspezifische Exklusivität des Postmaterialismus, da auch die übrigen Bevölkerungsschichten von seinen Ausstrahlungen schnell erfasst werden. Eine Herausforderung an den gesellschaftlichen Grundkonsens stellt insbesondere die nachlassende Zustimmungsbereitschaft für das traditionell als zentrales gesellschaftliches Gestaltungs-prinzip wirksame Leistungsprinzip dar. Der Grundsatz, die individuelle Leistung zum Zuteilungskriterium für materielle und soziale Chancen zu machen, wird von einer wachsenden Zahl von Menschen nicht mehr als verpflichtend und gerecht empfunden. Die mit diesem Grundsatz gleichzeitig erreichte Anspornung der Leistungsbereitschaft wird damit gleichzeitig abgelehnt. Die entstehende Gegenposition ist von der Idee der unbegrenzten individuellen Persönlichkeitsentfaltung und umfassender sozialer Gerechtigkeit geprägt. Ersteres wird zu kompromissloser Selbstverwirklichung, letzteres zu maximaler Gleichheit. Neue Schlagworte sind nun »Selbstorganisation«, »Partizipation« und »Dezentralisation«. Narzisstisch-hedonistische Bedürfnisse spielen eine ausschlaggebende Rolle. Dem Leistungsprinzip wird also als Alternative das Lustprinzip gegenübergestellt. Dabei werden nicht nur die möglichen luststiftenden Eigenschaften von Leistung übersehen. Unbedacht bleibt auch, dass das Lustprinzip aufgrund seines privatistisch-hedonistischen Charakters zur massenhaften Anwendung und als zentrale Gestaltungsprinzip für Großgruppen und Gesellschaften ungeeignet ist. Es wirkt in diesem Zusammenhang entstrukturierend und desintegrierend. Es wird immer schwieriger, die alten Normen, Werte und die daraus entstandenen Institutionen den sich immer stärker und schneller ändernden Bedingungen und Einflüssen unserer Umwelt anzupassen. Gelingt es der Gesellschaft nicht, den Wandel zu bewältigen und sich ihm anzupassen, entsteht ein Gestaltungsvakuum, in dem sich Gefühle existentieller Sinnlosigkeit und des Herausfallens aus Vergangenheit und Zukunft breit machen können. Als Protest gegen diesen Zustand kann die Ablehnung der oder sogar der Angriff auf die für das Übel verantwortlich gemachten traditionellen Werte und Normen erfolgen. Dass aber die Krise erst in unseren Tagen so richtig zum Ausbruch kommt, liegt auch daran, dass die wissenschaftliche, die technisch-ökonomische und die militärtechnische Entwicklung nun einen Stand erreicht haben, den der normale Bürger überhaupt nicht mehr versteht, dem Menschen bisher ungeahnte Mittel in die Hand gibt und sich in jeglichen Lebensbereich einmischt. Der Mensch wird also mit Nutzen und Gefahren vollkommen neuer Art und Größe konfrontiert. Durch den heutigen Stand der Wissenschaft und die moderne Technik bekommen eine Vielzahl von Entscheidungen eine ganz neue Tragweite und schwer abzuschätzende Konsequenzen. Die immer schwerer zu durchschauenden technischen Strukturen und Prozesse, ihre Überdimensionalität, Vernetzung und oftmals auch Irreversibilität können existentielle Verunsicherung, Ängste und das Gefühl einer wachsenden Inhumanität verursachen, was die Abkehr von industriegesellschaftlichen Wertorientierungen begünstigt. Zu diesen durchaus berechtigten Ängsten gesellt sich speziell in Deutschland eine Angstbereitschaft, die als Ausweis von Modernität und Progressivität gilt, und die mit beträchtlichem theoretischem Selbstbestätigungsaufwand gestützt und aufrechterhalten wird. Da sich die technisch-ökonomische Entwicklung im Rahmen des Kapitalismus vollzieht, unterliegt dieser in ähnlicher Weise der Skepsis und Ablehnung wie jene.

II. Erklärungsmodelle des Wertwandels

Die mit der Akzeptanzkrise der technisch-industriellen Hochzivilisation einhergehende Ausbreitung postmaterialistischer Wertvorstellungen ist eine Folge der industriegesellschaft-lichen Prosperität. Man kann eine Bedürfnishierarchie aufstellen: Höchste Priorität besitzen zunächst materielle Bedürfnisse. Sind sie befriedigt, treten an ihre Stelle immaterielle (soziale, kulturelle und intellektuelle) Bedürfnisse. Mittlerweile ist es bei uns zu einer Sättigung der materiellen Bedürfnisse gekommen, die Wertschätzung immateriellen Besitzes ist gestiegen. Da in der Jugend akzeptierte Wertstrukturen im Erwachsenenalter relativ stabil bleiben, wird die postmaterialistische Wertprägung beibehalten werden. So kommt es zu einem undramatischen, kontinuierlichen Prozess des Wertwandels, einer »stillen Revolution«, die die postmaterialistischen Struktur- und Verhaltensmuster zu allgemeiner Verbindlichkeit führt. Diese relativ reibungslose Ablösung des alten Wertesystems ist allerdings nur ein Teilaspekt. Man kann zwar eine harmonische, schleichende Erosion traditioneller Werte beobachten, doch ist der Wertwandlungsprozess auch in höchstem Maße konfliktträchtig. So sind traditionelle Werte und postmaterialistische Orientierungen scharf von einander abgegrenzte Kontrastwerte. Zusätzlich wird der Konflikt durch militante Kräfte der postmaterialistischen Bewegung verschärft, indem sie die traditionellen Werte als Unwerte verteufeln und sie möglichst schnell beseitigen wollen. Sie stellen einen Alleinherrschafts-anspruch auf. Der Postmaterialismus in seiner militanten Spielart will dominieren und die Gesellschaft von Grund auf verändern. Die Radikalität dieses Anspruchs erlaubt keine Konkurrenz und Koexistenz unterschiedlicher Werte oder eine Wertsynthese. Nun gibt es drei Wertwandlungsalternativen: Wertverlust, Wertumsturz und Wertsynthese. Der Wertverlust ist durch das Herausfallen aus eindeutigen Wertbindungen, der Abhängigkeit der Einstellungen und Verhaltensweisen von situationsbedingten Einflüssen und impulshaftem Reagieren gekennzeichnet. Beim Wertumsturz kann man heftiges Wertengagement und permanente Unruheneigung beobachten. Die Wertsynthese vollzieht eine Vereinigung älterer Wertbestände mit neuen, und es erfolgt eine Ausweitung des Einstellungs- und Verhaltensspielraums. Wir erleben heute eine Unbestimmtheit und wertstrukturelle Offenheit, die vielfältige Wertwandlungstendenzen möglich werden lässt. Unser gesellschaftliches System ist in einer sozialpsychologischen Schieflage. Man könnte meinen, dies müsse in eine Krise führen, jedoch gibt es sehr optimistisch klingende Studien, die feststellen, dass alte und neue Werte bei der Mehrheit der Menschen eine Art widersprüchliche Werteharmonie bilden.

III. Wertepolarisierung und sozial-kultureller Riss

Die Akzeptanzkrise der industriellen Hochzivilisation dürfte eine systemimmanente Krise sein, die sich auf widersprüchliche Entwicklungstendenzen unserer Gesellschaft zurückführen lässt, die sich von der Industriegesellschaft zur Wohlstandsgesellschaft entwickelt hat. Diese Widersprüche finden sich in vielen Lebensbereichen. Unsere auf Wohlstandsmaximierung fixierte arbeitsteilige Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft ist an Maßstäben wie Effizienz, Fleiß, Ordnung, Selbstdisziplin, Karriere- & Erfolgsstreben ausgerichtet. Jedoch produziert und fördert sie aus Absatzerfordernissen eine hedonistische Konsumkultur und eine Expansion der Ansprüche und Selbstverwirklichungsbedürfnisse, die über eine kontinuierliche Normenaufweichung zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Permissivität führen, die, wenn einmal eine bestimmte Grenze überschritten ist, auf die Produktions- und Leistungsgesellschaft zurückschlägt und ihre Funktionsfähigkeit in Frage stellt. Man sieht, dass sich die kapitalistische Zivilisation, die auf ihrem Höhepunkt ein integriertes Ganzes war, in dem Kultur, Charakterstruktur und Wirtschaft aus ein und demselben Wertsystem erwuchsen, sich selbst unterminiert. Die Ethik wird durch Massenproduktion und Massenkonsum zerstört und durch hedonistische Lebensformen ersetzt. Es setzt eine Verflachung ein, in der Statussymbole materiellen Besitzes und eine Ausweitung der Vergnügungen immer wichtiger werden. Ein höherer Lebensstandard und eine Lockerung der Sitten werden nun als Zeichen persönlicher Freiheit gewertet und zum Selbstzweck erhoben. Wie man hier sieht, ist der Postmaterialismus nicht eine eigenständige Gegenkultur, sondern vielmehr Teil der gleichen gesellschaftlichen Matrix, nämlich der aus der industriellen Zivilisation hervorgegangenen permissiven Wohlstandsgesellschaft. Man kann das Gegenteil von Marx‘ Theorien erkennen: Der Kapitalismus wird nicht durch Verelendung und Repressivität, sondern durch materiellen Überfluss und Permissivität unterhöhlt. Nach dem zweiten Weltkrieg entstand durch Liberalisierung und Demokratisierung der moderne Typ der pluralistischen Gesellschaft mit einem extrem hohen Maß an Toleranzbereitschaft. Die durch wirtschaftliche Prosperität entstandenen steigenden Erwartungen und Rechtsansprüche, die überbordenden sozialen Begehrlichkeiten, die rasche Expansion hedonistischer Konsumwünsche und die rücksichtslose Ausschöpfung der neuen Liberalitäts- und Toleranzspielräume führen aus der pluralistischen in eine egozentrische permissive Gesellschaft. In ihr breitet sich narzisstisches Denken und Handeln aus. Alles Sinnen und Trachten bezieht sich auf das Ich und die unverzügliche Befriedigung von jeglichem Wunsch. Die zentrale Handlungsanweisung in der permissiven Gesellschaft lautet, das zu tun, wozu man Lust hat. Die Rechte des Individuums rangieren weit vor seinen Pflichten. Die Ansprüche auf privates Wohlergehen, Bedürfnisbefriedigung, Selbstverwirklichung und Glück kümmern sich weder um die Vorraussetzungen der Verwirklichung der Ansprüche noch um die Folgen für andere. Die ständige Steigerung der Erwartungen, so dass das jeweilige Verhalten nie als befriedigend erlebt wird, entspricht der Unfähigkeit, irgend etwas zum Abschluss zu bringen. Um Konflikten aus dem Weg zu gehen, gibt der Staat narzisstischen Forderungen oft nach. Dadurch kann eine Schwächung der normativen Verbindlichkeit gesellschaftlicher Institutionen erfolgen. Da Werte und Normen, die als grundlegende, allgemein akzeptierte Orientierungsmaßstäbe für das menschliche Handeln Verhaltens- und Erwartungssicherheit ermöglichen, werden über Institutionen verinnerlicht. So begünstigt eine Schwächung der Institutionen die Erosion traditioneller Werte, Desorientierung und Verhaltensunsicherheit. Die westlichen Gesellschaften versuchen heutzutage, das alte Ziel der Einkommens- und Konsummaximierung mit dem neuen der Minimierung von Leistung und Disziplin zu kombinieren. Mit dieser Doppelorientierung, die einen fundamentalen ökonomischen und sozialen Zielkonflikt herausfordert, ist automatisch eine Polarisierung der Grunddispositionen der individuellen Wertorientierungen verbunden, die auf einen »Riss« im sozialkulturellen Gefüge unserer Gesellschaft und unserer politischen Kultur hinweist. Diese Polarisation begünstigt die Entstehung von zwei voneinander abgeschotteten Teilgesellschaften, die miteinander immer weniger zu tun haben, vielfach nicht mehr dieselbe Sprache sprechen, die Wirklichkeit an anderen Maßstäben bemessen und in anderen Kategorien auslegen, die von gänzlich unvereinbaren Sehnsüchten und Erwartungen umgerieben werden. Diese Aufspaltung in eine industrielle Kerngesellschaft und in eine postmaterialistische Gegengesellschaft scheint zentrales Charakteristikum westlicher Industrienationen im ausgehenden 20. Jahrhundert zu sein. Würde sich die Gesellschaft für einen Postmaterialismus extremer Form entscheiden, dann wäre wohl ein Zusammenbruch des bisherigen Wohlstandsniveaus und ein Zerreißen des Netzes sozialer Sicherheit kaum zu vermeiden. Es würde dann eine Selbstversorgungswirtschaft angestrebt, was die für ein Exportland wie Deutschland ruinöse Abkopplung vom weltwirtschaftlichen Verbundsystem bedeuten würde. Alle Entscheidungen über Produktionen würden an der betroffenen Basis gefällt und Großkonzerne aufgelöst werden. Postmaterialismus in gemäßigten Formen wird in Strukturen angetroffen, in denen der Wohlstand als eine gleichsam naturgegebene Selbstverständlichkeit begriffen und nicht angetastet wird. Der Menschentyp, der zur Welt gekommen ist, um das zu tun, wozu er Lust hat, ist also meist einfältig genug, zu glauben, dass diese materielle und soziale Organisation die ihm zur Verfügung steht wie die Luft, desselben Ursprungs ist, da sie, scheinbar, auch nie versagt und fast so vollkommen ist wie Naturdinge. Es macht sich das Denken breit, jegliches solle für jeden jederzeit unbegrenzt und kostenlos zur Verfügung stehen. Dieses Anspruchsdenken richtet sich sowohl auf Güter wie auch auf zentrale humane und kulturelle Werte wie Frieden, Glück und Liebe. Aber es sind auch »Positionsgüter« davon betroffen, zu denen Bildung, Berufspositionen und Dienstleistungen gehören und in der Gesellschaft »vorn« und »oben« bezeichnen.

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